MÖWE. – Einige wollen im Tod den Sinn des Lebens sehen. Den Sinn des Lebens im Aufhören des Lebens. Den Sinn meines Seins im Aufhören meines Seins. Und Leben, predigen sie, ist dies: ein Dem-Tode-entgegen-Leben. ,,Wir leben, um zu sterben. Der Tod ist das Ziel der Existenz“, behauptet der Dramatiker Ionesco. Das ist nach-gedachter Schopenhauer: ,,das Sterben ist eigentlich der Zweck des Daseins“, – ein bereits von Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft gerügter Satz. Tote Möwe am Strand: war ihr Leben ein Dem-Tode-entgegen-Leben? War es ein Sterben: Nicht Flug über der Brandung und Lust am Flug und Lust am Wasser und Lust am Wind und Lust in der Sonne? Schmerz wohl auch, Hunger, Kälte, Erschöpfung, vielleicht Krankheit? Und Kampf: Ist das ein dem Tode entgegen gelebtes Leben gewesen: Sie hat nicht dem Tode entgegen gelebt, weil sie überhaupt keinem Ende entgegen gelebt hat. Oder sie hat in der Tat dem Tode entgegen gelebt, wie jedes Leben ein Leben gegen den Tod ist, ein Leben dem Tode entgegengelebt. Wie sie jetzt daliegt, die im Flug lebendiges Leben war, auch gieriges Leben, – das Auge leer, den Schnabel halb geöffnet, die Federn ohne Farbe, ohne Glanz: das sollte der Sinn dieses vom Tod vernichteten Möwenlebens sein? Wäre denn nicht Sinn allemal nur für den Sinn, der ihn ,,setzt“? Sinn ist Sinn immer nur für den, der ihn setzt: weil er ihn gesetzt hat, sieht er ihn. Sinn ist Interpretation. Deshalb hat diese tote Möwe am Strand keinem Tod entgegengelebt. Deshalb hat sie nur eins getan: gelebt. Mit den Menschen sollte es anders sein? Überleg‘ ich es mir genau, so weiß ich, nicht das Ende ist mein Ziel. Mein Nichtmehrsein, irgendwann nach der Stunde, in der ich diesen Gedanken denke, – geht es mich etwas an? Ist es: meins?
Text „Möwe“ von Wolfgang Beutin, „Invektiven, Inventionen“, 1971.