Das Ergebnis der Bundestagswahl war eine gewaltige Schlappe für DIE LINKE. Es geht jetzt nicht weniger als um die Existenz und Daseinsberechtigung unserer Partei. Wenn uns eine grundlegende Neuaufstellung gelingt, haben wir jede Chance, gestärkt aus dieser Krise hervorzugehen. Ich habe hier aus meiner Sicht zehn Punkte aufgeschrieben, warum wir bei 4,9 Prozent gelandet sind, was anders werden muss. Klar ist, das kann erst der Anfang sein – nach Rückschlägen vorwärts:
- Wir haben einen engagierten Wahlkampf gemacht, die soziale Frage stand im Mittelpunkt, auch auf den Plakaten, in unserem Kurzprogramm. Wir hatten ein Wahlprogramm, das auch außerhalb unserer Partei breite Anerkennung erfahren hat, bei Instituten, in Medien: Konkreter als alle anderen Partei und unverwechselbar, etwa bei der Rente, in unserem Steuerkonzept oder eben bei der Klimapolitik, wo wir uns mit Klimagerechtigkeit und klaren Regeln auch von den Grünen abgehoben haben. Angekommen ist es aber nicht bei denen, die wir erreichen wollten: In Kiel haben wir sowohl in Wahllokalen verloren, die eher akademisch geprägt sind, mit mittlerem Einkommen, aber auch in klassischen „sozialen Brennpunkten“. Trotz unseres „Markenkerns“ soziale Gerechtigkeit im Mittelpunkt sind viele Wähler*innen nicht mehr zur Wahl gegangen oder haben SPD oder Grüne gewählt.
- Wir haben relativ spät in den Wahlkampf-Modus geschaltet, was auch damit zusammenhing, dass die Wahl des neuen Parteivorstands zweimal verschoben wurde, auch Susanne und Janine Zeit brauchten, ihre Rolle zu finden. Erst am ersten Wochenende nach der Bundestagswahl hat sich der Parteivorstand zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht, nicht vor dem Bildschirm zusammengefunden. In Kiel sind wir vergleichsweise früh in den Wahlkampf gestartet, haben viele neue, besonders junge Mitglieder hinzugewonnen und waren noch bis in die Nacht zur Bundestagswahl auf der Straße. Hier sind Punkte, an die wir anknüpfen müssen, diese Dynamik nicht immer kurz vor Wahlen zu reproduzieren, sondern kontinuierlich unsere Mitglieder organisieren und auf der Straße sichtbarer werden. Vielleicht können auch Haustürgespräche außerhalb des Wahlkampfes dazu ein Instrument sein.
- Corona hat bei uns reingehauen. Standen wir davor zum Teil um die 10 Prozent, sind wir währenddessen abgesackt. Das hängt ein Stück weit damit zusammen, dass wir zwar einige gute Vorschläge hatten, aber zu wenig durchgedrungen sind, auch weil unsere Mitgliedschaft gespalten war in die, denen die Maßnahmen nicht weit genug gingen, und denen, die recht früh beispielsweise auf Lockerungen gesetzt haben. Was Kern unserer Corona-Politik war, die soziale Dimension (Arme stärker betroffen als Reiche, sowohl vom Virus als auch von den sozialen Folgen) der Krise, ist häufig in der Kommunikation hinten runtergefallen. Zu wenig gefeiert haben wir Erfolge, etwa als wir im Europäischen Parlament unseren Antrag auf Aufhebung des Patentschutzes für Impfstoffe durchbekommen haben, oder die Gesundheitspolitik unserer linken Senatorin in Bremen, die sehr klar die sozialen Unterschiede in den Stadtvierteln beim Schutz vor Corona und bei den Impfungen einbezogen hat.
- Der Wahlkampf war sehr zugespitzt auf die Frage der Merkel-Nachfolge, zentral waren die „Trielle“. Politische Debatten etwa darüber, wer für die Folgen der Corona-Krise aufkommt, wie wir Rente und Gesundheit reformieren, oder die Klimakrise stoppen, sind zu kurz gekommen. Scholz hat mit einer Merkel-Imitation geschafft, den Menschen Sand in die Augen zu streuen, Brechmittel-Einsatz, Agenda-Politik, CumEx und Wirecard vergessen zu machen. Hinzu kommt, dass die SPD im Erscheinungsbild, auch mit der gelungenen Wahlkampagne deutlich nach links gerückt erschien, was Mindestlohn, Rente und andere Themen angeht. Die Grünen haben sehr von der Klimabewegung profitiert, sind aber dann abgesackt im Zuge einiger Fehler. Die Grünen haben in den letzten Jahren vom Image her ihre Lücke bei sozialer Gerechtigkeit ein Stück weit geschlossen, sind auch in den Dialog mit Gewerkschaften gegangen, das hat sich ausgezahlt. Auch wenn wir die besseren Konzepte haben bei den Themen sozialer Gerechtigkeit und beim Klima, unsere Alternativen haben kaum stattgefunden.
- Gestartet sind wir mit dem Slogan „CDU raus aus der Regierung“, letztlich war das vielleicht erfolgreich, aber wir selbst sind darin zu wenig vorgekommen. Dass wir deutlich gemacht haben, dass wir bereit sind für einen echten Politikwechsel, bei dem in zentralen Punkten die Richtung stimmt, war aus meiner Sicht richtig. Aber als uns SPD und Grüne die Tür zugeschlagen haben, sowohl Baerbock und Habeck als auch Scholz sehr deutlich, war klar, dass so etwas wie ein „progressives Lager“ einfach nicht existent ist. An diesem Punkt wirkte der Appell an eine nicht existentes „Mitte-Links-Lager“ nicht selbstbewusst, sondern verzweifelt.
- Hinzu kam die Afghanistan-Abstimmung. Ich selbst habe mich für die Enthaltung ausgesprochen, es war begründbar, aber ist von uns als Fraktion und Partei nicht ausreichend begründet worden. Es war strategisch falsch, dass wir nicht sofort, als unser Beschluss für Enthaltung gefasst war, nach außen gegangen sind. So haben wir Laschet, Ziemiak, Scholz und anderen, die eigentlich Verantwortung für das Desaster tragen, die Deutungshoheit überlassen. Hinzu kam eine Kakophonie in der Fraktion aus Für- und Gegenstimmen plus Abgeordneten, die sich bemüßigt fühlten, über die Medien zu begründen, warum die jeweils andere Haltung grundlegend falsch und zu verdammen sei. Wir haben früh die Evakuierung der Ortskräfte beantragt, gescheitert ist es an SPD und Union. Wir haben mit richtigen Argumenten immer wieder den Afghanistan-Krieg kritisiert, eigentlich hätte das unsere Stunde sein müssen. Stattdessen ist es den anderen Parteien gelungen, die Erzählung zu drehen und als Waffe gegen uns zu wenden. Auch das nicht allein wahlentscheidend, aber ein weiterer Baustein.
- Mit ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ hat Sahra uns fünf Monate vor der Wahl einen gewaltigen Schuss vor den Bug gesetzt. Das Buch geht in vielen Punkten von einigen richtigen Beobachtungen aus, etwa dass wir bei Erwerbslosen und bei dem, was mal Arbeiterklasse war, verloren haben in den letzten Jahren. An vielen Punkten folgen aber verheerende Fehlschlüsse, etwa wir könnten mit einer bestimmten Art „linkskonservativer“ Politik Wähler*innen, die zur AfD gewechselt sind, zurückgewinnen. Zudem wird gegen alles geschossen, was nicht unmittelbar zusammenhängt mit Fragen von Lohn und Arbeit: Menschen, die sich für ihre Rechte stark machen, gegen Rassismus, Homophobie, für Menschenrechte werden diffamiert als „skurrile Minderheiten“, anstatt zu erkennen, dass es immer um den Kampf um eine freie, gerechte, solidarische Gesellschaft geht. Nicht zuletzt fatal ist aus meiner Sicht das Schießen gegen die Klimabewegung, was auch nach dem Wahlabend begonnen hat: Das Problem ist nicht, dass wir uns mit der Herausforderung der Klimakatastrophe beschäftigen, vielmehr ist es die Problematik, dass wir es als Gesamtpartei erst relativ spät tun und dass wir mit unserer Antwort Systemwandel und Klimagerechtigkeit weder ausreichend präsent noch im Gesamtpaket vollkommen glaubwürdig wären. Sahra als bekanntes Gesicht der Partei ist nun durch sämtliche Talkshows getourt und hat das, was man als Framing bezeichnen kann, gemacht: Die Linke ist geprägt von Lifestyle-Linken, sie kümmert sich nicht um die sozialen Fragen, sie redet ständig übers Gendern. Diese Message in die Köpfe gehämmert, bei Lanz und Maischberger, bei Bild und Welt hat dazu geführt, dass selbst ein Teil unserer Mitglieder diesem Zerrbild aufgesessen ist, denn dass die Realität eine andere ist kann jede*r sehen in unserem Wahlprogramm, in unserer Praxis in den Parlamenten und in unseren Kreisverbänden.
- Wir müssen die Debatte beenden, welche „Milieus“ wir erreichen wollen. Diese Debatte trägt immer wieder den Kern der Spaltung in sich, unserer Mitglieder und unserer Wähler*innen. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass Partei und Bewegung nicht identisch sind: Wir sind nicht die Partei einer Bewegung, sondern wir greifen als Partei Anliegen unterschiedlicher Bewegungen auf: Von Mieter*innen, von Pflegekräften, aus der Klimabewegung, von antifaschistischen und antirassistischen Kräften, aus der Frauen- und queeren Bewegung, von Gewerkschaften und sozialen Initiativen. Aber wir sind nicht das Sprachrohr einer Bewegung, sondern haben die Aufgabe, in unserem Programm und unserer Praxis diese unterschiedlichen Anliegen miteinander zu verbinden, in eine Vorstellung einer solidarischen Gesellschaft. Denn alle diese Anliegen haben den Gedanken der Solidarität und der Gerechtigkeit gemeinsam.
- Wir haben häufig als Partei und als Fraktion mit unterschiedlichen Stimmen gesprochen. Wurde eine Position geäußert, war klar, es würde rasch die Gegenposition kommen. Wir haben ein gutes Grundsatzprogramm, ein gutes Wahlprogramm, aber es ist häufig nicht in der Geschlossenheit und Überzeugung vertreten worden nach außen, wie es notwendig wäre. Und vielleicht brauchen wir den Mut, auch einmal Entscheidungen zu treffen und sie durchzuhalten. Das ist kein Plädoyer gegen Meinungsvielfalt in der Partei, im Gegenteil, wir brauchen den (konstruktiven) innerparteilichen Streit, aber wenn das zur Beliebigkeit wird, wenn sich unsere Wähler*innen zu Recht fragen, wofür wir in bestimmten Positionen stehen, müssen wir das ändern.
- Häufig stehen unsere Forderungen unverbunden nebeneinander, das Gesamt wird zu selten deutlich. Zudem ist unsere Herkunft als ein „Korrektiv“ von SPD und Grünen (Linke wählen, damit SPD und Grüne soziale Politik machen) spätestens mit diesem Wahlkampf überholt. Eine der großen Herausforderungen wird also sein, wie wir zu einer eigenständigen, kämpferischen sozialistischen Partei werden, die in Parlamenten verankert ist, aber ihre Basis in der Mitgliedschaft hat und weiß, dass grundlegende Veränderung (auch) auf der Straße, in den Belegschaften, in Bündnissen, kurz in der Gesellschaft erkämpft wird. Ich bin überzeugt davon, dass wir viel stärker arbeiten müssen an dieser positiven Vision von Gesellschaft, dass wir das mit Beispielen unterfüttern müssen, wie es ganz anders werden kann, und dass wir nicht in Sack und Asche gehen dürfen, sondern vielmehr sehr selbstbewusst um diese Partei und um diese Gesellschaft kämpfen müssen.
Sicher fallen Euch jetzt noch weitere Gründe ein, vielleicht macht Ihr eine andere Gewichtung, habt an dem einen oder anderen Punkt eine andere Einschätzung. Lasst uns das in die Debatte werfen, lasst uns darüber sprechen und miteinander ringen darum, was eine linke, sozialistische Partei auf der Höhe der Zeit ausmacht, welche Rolle wir darin spielen wollen. Klar ist, ich möchte um diese Partei kämpfen, ich möchte in ihr auf Bundesebene und auch in Schleswig-Holstein weiter eine Rolle spielen, den Weg gemeinsam mit Euch ausloten und gehen. Es ist nicht zu Ende, es muss gerade erst anfangen.