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Klimaproteste gegen Datteln 4: Offener Brief an NRW-Innenminister Reul und Polizeipräsidentin zum eskalierenden Polizeieinsatz

Offener Brief an NRW-Innenminister Reul und Polizeipräsidentin: Eskalierender Polizeieinsatz am 30. Mai 2020 auf friedliche Klimaschutz-Demonstrant*innen wegen des Vorwurfs des Verstoßes gegen Vermummungsverbot

                                                                                                    

                                                                                                     Berlin, 03. Juni 2020

 

Sehr geehrter Herr Landesinnenminister Reul, sehr geehrte Frau Polizeipräsidentin Zuhausen,

 

als parlamentarischer Beobachter für die Bundestagsfraktion DIE LINKE begleite ich seit mehreren Jahren die friedlichen Protestaktionen der Klimaschutzbewegung in Deutschland.

Ich verstehe es als meine Aufgabe, als gewählter Volksvertreter, als unabhängiger Zeuge und neutraler Vermittler sowohl das Verhalten von Demonstrant*innen als auch das der Sicherheitsbehörden zu dokumentieren und Öffentlichkeit herzustellen, auch um im notwendigen Fall deeskalierend auf alle Beteiligten einzuwirken. Für meine Partei, Fraktion und mich persönlich gehört das Grundgesetz und seine Einhaltung zu einem der Grundpfeiler unserer demokratischen Gesellschaft und Rechtsstaats.

Ich richte mich an Sie, weil es bei den angemeldeten Demonstrationen gegen die Inbetriebnahme des Steinkohlekraftwerkes „Datteln 4“ am 30. Mai 2020 gegen 14:00 Uhr in Höhe der Emscher-Lippe-Straße 22, 45711 Datteln zu einem aus meiner Sicht grob unverhältnismäßigen, eskalierenden und unrechtmäßigen Einsatz von BFE-Polizeibeamt*innen mit den Kennungen „NRW 2 BF 1“, „NRW 2 BF 13“, „NRW 2 BF 11“ und „NRW 1 BF 21 RH“ gegen friedliche Demonstrant*innen gekommen ist, die sich aus meiner Sicht an sämtliche Demonstrations- und Pandemieauflagen gehalten haben:

Als die Demonstration, vom neuen Kraftwerk kommend, hinter der Dortmund-Ems-Kanal-Brücke auf der angemeldeten Route nach rechts in Richtung Datteln-Innenstadt abbiegen wollte, tauchten überfallartig Beweissicherungs-Festnahme-Einheiten (BFE) der Polizei auf, gingen ohne Ankündigung mehrere Demonstrationsteilnehmer*innen an, darunter auch Minderjährige, rissen die Betroffenen unter körperlichem Gewalteinsatz zu Boden, schirmten die völlig überraschten Demonstrierenden von der Menge ab und brachten sie zu bereitstehenden Einsatzwagen, um sie zu durchsuchen und ihre Identität festzustellen. Bei der Festnahme wurden unbeteiligte Demonstrant*innen gewaltsam zur Seite gestoßen, die dabei leicht verletzt wurden.

Trotz meiner Signalweste mit der deutlich sichtbaren Aufschrift „Parlamentarischer Beobachter“ wurde ich zunächst nicht zu den Festgenommenen durchgelassen. Nach intensivem Insistieren konnte ich mit einem Verantwortlichen der betreffenden Einheit sprechen. Seine Aussage: Die fünf Demonstrant*innen hätten gegen das Vermummungsverbot verstoßen. Auf meinen Verweis auf das Corona-Pandemie-Maskengebot wegen Corona lautetete die Antwort, die Personen hätten sich über das dazu notwendige Maß hinaus vermummt, beispielsweise sei bei jemandem „der Haaransatz nicht mehr zu sehen“ gewesen, andere hätten „eine Sonnenbrille getragen“. Warum es seitens der Polizei keine Aufforderung zur Entmummung oder Kontaktaufnahme mit der Demonstrationsleitung gegeben habe, diese Frage wurde nicht beantwortet.

Für alle Demonstrationsteilnehmer*innen, anwesende Pressevertreter*innen und mich als parlamentarischer Beobachter wirkte der Einsatz wie ein willkürlicher Angriff auf die körperliche und psychologische Unversehrtheit und das grundrechtlich verbriefte Recht auf Versammlungsfreiheit und Menschenwürde. Das hier kritisierte Verhalten trägt stark dazu bei, dem Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei zu schaden.

Um Aufklärung des Geschehenen bemüht bitte ich Sie darum um die Beantwortung folgender Fragen:

  1. Auf das Tragen von Mund-und-Nasen-Schutzes wurde auf der Versammlung seitens der Polizei mehrfach hingewiesen, bei Verstößen wurde mit Personalienfeststellung gedroht. Wie ist das Vermummungsverbot als Grund der polizeilichen Maßnahme mit Einhaltung des Infektionsschutzes vereinbar bzw. welche Rechtsgrundlage und Lageeinschätzung liegt dem zugrunde?
  2. Auf welcher Rechtsgrundlage und Lageeinschätzung erfolgten vor der polizeilichen Maßnahme keine Lautsprecherdurchsagen und entsprechende Aufforderungen wie auf Demonstrationen üblich?
  3. Auf welcher Rechtsgrundlage und Lageeinschätzung erfolgte der Zugriff in der beschriebenen Schärfe und ebenfalls ohne vorherige Ankündigung?
  4. Auf welcher Rechtsgrundlage und Lageeinschätzung erfolgte das gewaltsame Wegstoßen von unbeteiligten Demonstrant*innen der polizeilichen Maßnahme?
  5. In welcher Form gedenken Sie die beschriebenen Vorfälle intern aufzuarbeiten und werden sie diese Aufarbeitung der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen?
  6. Ist neben der rechtlichen Aufarbeitung der Vorfälle mit einer Entschuldigung bei den Betroffenen zu rechnen, die nach der ausgeübten Gewalt neben körperlichen Schäden (Prellungen, Blutergüssen, Hautabschürfungen) auch mit den psychologischen Folgen körperlicher Gewalt zurückbleiben?

Über eine zeitnahe Darstellung über die Umstände des Polizeieinsatzes wäre ich Ihnen dankbar. Das vorliegende Schreiben wird zur Berichterstattung an die Presse weitergegeben.

 

Mit freundlichen Grüßen

Lorenz Gösta Beutin